Aus Lügen, die wir ständig wiederholen, werden Wahrheiten, die unser tägliches Leben bestimmen. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
 

Wunschdenken, Lügen, Selbstbetrug, ...

Man kann Sigmund Freud zugutehalten eine Vielzahl von wichtigen Forschungen, Theorieentwicklungen und gesellschaftlichen Diskurse mit initiiert zu haben. Vergleicht man aber seine Darstellung des Menschen, als eines von Trieben beherrschten Wesens mit einer quasi statischen psychischen Grundstruktur, mit den etwa zeitgleichen Arbeiten von George Herbert Mead, ärgert man sich schon, wie ein derart simples Bild des Menschen so einflussreich werden konnte. Seine Unterteilung in Über-Ich, Ich und Es definiert Merkmale, die ein psychodynamisches Modell des Menschen eigentlich erst erklären bzw. herleiten müsste, als auf eine mysteriöse Weise bereits gegeben. Besonders stören mich die Freudschen Begriffe der Übertragung und Gegenübertragung. Je nach Perspektive und Interpretation handelt es sich im günstigen Fall um Empathie, im ungünstigen um mechanistische Fantasmen, übergriffig indoktrinäre Konzepte oder um leere Worthülsen. Insbesondere erstaunt bei jemandem der für einen großen Psychologen gehalten wird, der in seinem Werk sichtbare beträchtliche Mangel an Empathie. Anstatt zu versuchen die Einsichten seiner einstiegen Weggefährten nachzuvollziehen, und in seine Theorien zu integrieren, schrieb er am 1. Januar 1907 an Jung: "Meine Neigung geht dahin, die im Widerstand befindlichen Kollegen nicht anders zu behandeln als die in gleicher Lage befindlichen Kranken". Da insbesondere Menschen im Bereich ihrer sexuellen Identität besonders verletztbar und manipulierbar sind, verwundert es nicht, dass die durch ihn gegründeten psychoanalytischen Gesellschaften in ihren sektenartigen Tendenzen mitunter wie eine Vorlage für die vielen in der Folgezeit entstandenen Psychosekten erscheinen.

Es gibt kaum ein Thema, zudem so viel gelogen wird, wie dem der Lüge. Sucht man empirische Daten zur durchschnittlichen Häufigkeit des Lügens, trifft man auf eine überraschend große Bandbreite an Ergebnissen. Zwischen 3 und 300 mal sollen Menschen täglich durchschnittlich Lügen. Mir ist keine andere empirisch messbare Kenngröße bekannt, deren Werte derart stark auseinander gehen. Das Ergebnis scheint mir im entscheidenden Maße von der Bereitschaft abzuhängen genau hinzusehen, z.B. ist mir keine Untersuchung bekannt, welche nonverbale Lügen mit erfasst. Vielleicht ist ja die tatsächliche durchschnittliche Häufigkeit sogar noch eine Größenordnung größer. Ähnlich wie eine Aussage gleichzeitig mehrere verschiedene Bedeutungen haben kann, kann eine Aussage in mehreren Teilaussagen als auch auf mehreren Ebenen gleichzeitig nicht der Wahrheit entsprechen. Überinterpretiert man den Adorno-Spruch "Es gibt kein richtiges Leben im falschen" für die Definition einer Lüge, dann wird die wahre Aussage sogar zur absoluten Ausnahmeerscheinung. Evolutionär ist es immer schon von Vorteil gewesen, sich in einem besseren Licht darzustellen, und Handicaps zu verstecken. Die intellektuelle Redlichkeit bzw. Demut die Basis des eigenen Wissens und der eigenen Überzeugungen korrekt darzustellen wirkte immer schon regelrecht exotisch.

Den guten Lügner unterscheidet vom schlechten, dass er gelernt hat überzeugend und glaubhaft seine Lügen vorzutragen. Dieses setzt nicht nur die schnelle Modifikation einer Vielzahl mentaler Repräsentationen voraus, sondern ebenfalls die unbedingte Bereitschaft einer Lüge weitere Lügen folgen zu lassen. Erreicht der durch eine Lüge betroffene Personenkreis eine bestimmte Größe oder die betroffenen Sachverhalte eine bestimmte Anzahl, wird die Komplexität kognitiv nicht mehr beherrschbar. Der Lügende verliert den Überblick, und die Unterscheidung zwischen orginären und modifizierten mentalen Repräsentationen geht verloren. Eine Selbsttäuschung bis hin zu einem false memory syndrome ist unausweichlich. Zusammen mit diesen Selbsttäuschungen ist es die pauschale moralische Verurteilung des Lügens, die es erschwert, eine unerwünschte Folgen verursachende Lüge noch rechtzeitig aufzulösen. Erst dadurch entwickeln Lügen ihre mitunter fatal destruktiven Wirkungen. Für jemanden, der versucht auf Lügen zu verzichten, wird das Leben sehr schnell sehr komplex. Für jemanden, der exessiv lügt ebenfalls nur vollkommen anders. Vielleicht liegt ja die allgemein vorhandene Lügenhäufigkeit irgendwo in der Nähe des gegenwärtig gesellschaftlich möglichen Komplexitätsminimum. Was die Frage aufwirft, wie eine Gesellschaft aussehen müsste, in der es einfacher ist weniger zu lügen. Insbesondere das oft seuchenartige Auftreten von leicht vermeidbaren Bequemlichkeitslügen empfinde ich als lästig. Oft habe ich kein moralisches Problem mit den Lügen, da mir die Motive viel zu verständlich sind. Mir wird trotzdem unwohl, wenn ich die Unmenge möglicher resultierender Missverständnisse und deren Folgen betrachte. Soziologisch könnte man Lügen als übergriffige bzw. abwehrende Handlung beschreiben, da es eine Verletzung von Konversationsmaximen impliziert.

Die Farben der Lüge

Mahzarin R. Banaji und Anthony G. Greenwald haben in ihrem Buch "Vor-Urteile: Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können" von 2015 eine Farbentypologie der Lüge vorgestellt, die ich etwas erweitern möchte. Folgt man dem moralischen Rigorismus Immanuel Kants, scheint es keinen Sinn zu ergeben Arten von Lügen zu unterscheiden, da jede Lüge moralisch zu verurteilen ist. Jenseits dessen findet man jedoch häufig die Unterscheidung zwischen weißen und schwarzen Lügen. Moralisch tendenziell unbedenkliche Höflichkeitslügen werden hier von Lügen zum Zwecke des Betruges unterschieden. Das Prinzip der Lüge zu einem guten Zweck, das oft als Notlüge versucht wird moralisch zu rechtfertigen, kann sogar bis zur Idee einer Pflichtlüge ausgebaut werden. Versucht man dieses Schwarzweißschema auf empirisch beobachtbare Lügen anzuwenden, kommt man jedoch schnell zu dem Ergebnis, dass die meisten Lügen irgendwo dazwischen liegen. Graue Bequemlichkeitslügen gibt es in allen möglichen Schattierungen. Diese differenzierte Typologie von Lügen lässt sich noch erweitern, indem man nach den Gründen und Absichten der Lügenden fragt. Unter blauen Lügen kann man Lügen verstehen, die dem Wunsch entspringen das Gesagte möge wahr sein. Rote Lügen wiederum dienen der Steigerung der eigenen Attraktivität. Um den trichromatischen Raum unserer Farbwahrnehmung voll auszunutzen, möchte ich noch den Typus der grünen Lüge hinzufügen. Diese bezeichne religiöses Wunschdenken z.B. der eigenen Auserwähltheit oder der Auserwähltheit der eigenen Gruppe. Zusammen betrachtet spielt bei allen Lügen Wunschdenken eine maßgebliche Rolle, bei blauen in Bezug auf die Welt, bei roten in Bezug auf einen Selbst und bei grünen im Bezug zum Absoluten. Zusätzlich besitzt jede Lüge eine gewisse Durchsichtigkeit. Vollständig opaque Lügen sind in allen Zusammenhängen und Folgen bewusst, wohingegen vollständig transparente Lügen unbewussten Selbsttäuschungen entsprechen.

Offene versus autoritäre Menschenbilder

Ein offenes Menschenbild bedeutet im Extremfall, dass es keine Psychologie des Menschen, sondern lediglich eine Psychologie eines Menschens, geben kann. In der folgenden Tabelle möchte ich grob vereinfachend dahingehend argumentieren, dass die George Herbert Mead gegenübergestellten autoritären Menschenbilder auf autoritären, gegenüber dem Menschen übergriffigen Grundannahmen basieren. Dabei sind sie stark mechanistischen Weltbildern und linearem Denken verhaftet.

Dialektischer Materialismus
(Marx, Engels)
Sozialkonstruktivismus
(Berger, Luckmann)
Psychoanalyse
(Freud)
Individualpsychologie
(Adler)
Transaktionalismus
(Mead)
Behaviorismus
(Watson, Skinner)
Verhaltensforschung
(Pawlow, Lorenz)
Soziobiologie
(Dawkins, Diamond)
  Neopsychoanalyse (Fromm, Erikson)          
Freudomarxismus / Kritische Theorie (ReichMarcuse, Horkheimer, Adorno)    
der Mensch ist das
Ensemble der
gesellschaftlichen
Verhältnisse
der Mensch ist trieb-
und affektgesteuert
(psychodynamische
Modelle)
Geltungsstreben und
Gemeinschaftsgefühl
menschliches Verhalten
ist basierend auf
biologischen Anlagen
genuin sozial
menschliches Verhalten
besteht aus genetisch
angeleten und erlernten
Reiz-Reaktions-Mustern
Klassen-antagonismen verdrängte sexuelle
Konflikte
nervöser Charakter
Minderwertigkeitskomplex
Überempfindlichkeit
gestörte biochemische,
psychische und/oder
soziale Dynamiken
dysfunktionale oder
widersprüchliche
Reiz-Reaktions-Muster
aktivistisch / soziologistisch obskurantistisch / psychologistisch       offenes Menschenbild reduktionistisch / biologistisch

mehr oder weniger offene Menschenbilder
- Psychophysik (Weber, Fechner), Biopsychologie (Wundt, James)
- Gestaltpsychologie (Lewin, Köhler, Koffka, Wertheimer)
- Tätigkeitstheorie (Wygotski, Lurija, Leontjew)
- Kognitive Entwicklungspsychologie (Piaget)
- Kognitive Neurowissenschaft

Freudianismus
- Analytische Psychologie (Jung)
Strukturale Psychoanalyse (Lacan)
- Ich-Psychologie (Anna Freud, Hartmann)
- Selbstpsychologie (Kohut, Stern)
- Objektbeziehungstheorie (Klein), Übertragungsfokusierte Psychotherapie (Kernberg)
- Bindungstheorie (Bowlby, Robertson, Ainsworth)
- Mentalisierungsbasierte Psychotherapie (Fonagy)

Humanistische Psychotherapie (Maslow) - der Mensch ist gut und die Gesellschaft ist böse - blockierte Selbstaktualisierungstendenz als Störungsauslöser
- Klientenzentrierte Psychotherapie (Rogers)
- Positive Psychotherapie (Peseschkian)
- Humanistisches Psychodrama (Moreno)
- Gestalttherapie (Fritz-, Laura Perls, Goodman)
- Körperpsychotherapie (Reich)
- Psychosynthese (Assagioli)
- Logotherapie und Existenzanalyse (Frankl)
- Daseinsanalyse (Binswanger, Boss)
- Themenzentrierte Interaktion (Cohn)
- Transaktionsanalyse (Berne)
- Integrative Therapie (Petzold)

Dem Motto folgend: 'Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.' sind mir die Ansätze der humanistischen Psychotherapie sehr sympathisch, jedoch trifft man ab und zu auf Aussagen die dann doch etwas mehr sind als nur wissenschaftskritisch. In den Selbst-Hilfe-Bewegungen mit ihren vielen individualistischen und libertären Übertreibungen, von denen die Selbstwertgefühl-Bewegung nur eine ist, spielte und spielt sie ebenfalls eine maßgebliche Rolle. Auch vermisse ich insbesondere eine intensivere Beschäftigung mit den Themen Psychopathie und Mobbing und damit zusammenhängend mit dem Thema Narzissmus. Aus meiner Sicht liegt dieses an einer unzureichenden Berücksichtigung gesellschaftlicher Problemlagen. Dieser Vorwurf trifft aber auch auf die dominierenden behaviorismus-basierten verhaltenstherapeutischen Ansätze zu. Diese können insbesondere bei Problemen geringer Komplexität zuverlässig Erfolge erzielen, die auch weniger abhängig von den empathischen Fähigkeiten der Therapeuten sind.

Die Auflistung hier ist natürlich nicht ansatzweise vollständig. Es fehlen z.B. Familienaufstellung. Bei ihnen können insbesondere erfahrene Teilnehmer oft sehr schnell Lebenslügen oder Geheimnisse des Aufstellenden offenlegen, und ihnen dadurch helfen, klärende und konfliktlösende Strategien zu entwickeln. Es besteht aber auch die Gefahr, dass Aufstellende die Aufstellung für das Einüben oder sogar das Finden neuer Vorwürfe gegenüber Familienmitgliedern benutzen, und dadurch bestehende Konflike verschärfen.

Alle hier zusammengestellten Menschenbilder sind auf ihre je eigene Art zumindest vom Ansatz her optimistische Menschenbilder und als solche exotische Randerscheinungen. Sowohl historisch als auch aktuell dominieren insbesondere institutionell die religiös geprägten pessimistischen Menschenbilder, die wiederum die Begründung für die Notwendigkeit extensiver Kontroll- und Sanktionsregime liefern. Auch im real existierenden Sozialismus dominierten in der Praxis teils archaische pessimistische Menschenbilder, obwohl die offizielle Parteiideologie andere propagierte. Durch diese institutionalisierte Heuchelei wurde ein Nährboden oder zumindest ein Freiraum bereitet sowohl für völkisches Gedankengut als auch für von religiösem Pessimismus befreitem Denken.

Das offene Menschenbild von Mead, wonach der Menschen in seinem Wesen genuin sozial ist, überzeugt mich am meisten. Diese condicio humana entwickelte sich in Wechselwirkung mit einer Zunahme eines neotenen Freiraums, welcher ein hohes Maß an Unbestimmtheit, eine Noch-Nicht-Festlegung und somit eine soziale Formbarkeit darstellt. Viele Aufgaben der Überlebenssicherung konnten vom Individuum auf die Gruppe übergehen. Im Gegenzug wurden soziale Logiken durch die Individuen verinnerlicht. Leider ist Meads sozialphilosophischer Standpunkt der mit Abstand unbequemste von allen, da er auf William James aufbauend zusätzlich nicht nur die Biologie sondern auch die soziale Sphäre in die Betrachtung integriert, und deshalb eine Minderheitenposition. Es ist viel bequemer individualistisch die soziale Sphäre als etwas außen liegendes zu betrachten, um das man sich in der Psychologie nicht auch noch kümmern möchte. Erschwerend kommt hinzu, dass die dominierende Rezeption von Mead Philosophie stark durch Habermas verzerrende Beschreibung geprägt zu sein scheint.

Literatur

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung), 1981
Mahzarin R. Banaji, Anthony G. Greenwald, "Vor-Urteile: Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können", 2015
Timur Kuran, "Private Truths, Public Lies: The Social Consequences of Preference Falsification", 1995
 

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