Es ist kein Zeichen von Stärke, in diesem System gesund zu bleiben.
 

Die Angst der Anderen

Empirische Persönlichkeitstypologie
Defizitorientierte Persönlichkeitstypologie
  Angst
  Das Spektrum histrionischer Persönlichkeitsdefizite
  Das Spektrum narzisstischer Persönlichkeitsdefizite
  Das Spektrum eigenartiger Persönlichkeitsdefizite
  Das Spektrum antisozialer Persönlichkeitsdefizite
  Psychopathie und Soziopathie
Ressourcenorientierte Persönlichkeitstypologie
Literatur

Empirische Persönlichkeitstypologie

Das bekannteste und verbreitetste Modell zur Klassifikation der Persönlichkeit von Menschen innerhalb der Persönlichkeitspsychologie ist das Modell der Big-Five (OCEAN-Modell). In ihm werden Persönlichkeitsmerkmale in 5 Kategorien zusammengefasst, so dass die Persönlichkeit jedes Menschen innerhalb eines 5-dimensionalen kontinuierlichen Raumes verortet werden kann. Aber auch diese 5 Persönlichkeitsmerkmale sind nicht völlig unabhängig voneinander. So findet sich oft eine negative Korrelation zwischen Verträglichkeit und Offenheit für Erfahrungen. Auch sind Menschen nicht gleichmäßig normalverteilt über die 5 Dimensionen. Dem sozio-kulturell beeinflussten Konzept der Persönlichkeiten kann das Konzept der Temperamente gegenübergestellt werden als eher biochemisch beeinflusst. Wird bei Temperamenten eine starke Anlagebedingtheit angenommen, schwankt sie bei den Big-Five um die 50 %. Historisch betrachtet gibt es auch noch eine Vielzahl von Lehren die jeweils feste Persönlichkeits- bzw. Charaktertypen postulieren.

  Anlagebedingtheit in % bei starker Ausprägung bei schwacher Ausprägung
O Offenheit für Erfahrungen ≈57 erfinderisch, neugierig konservativ, vorsichtig
C Gewissenhaftigkeit ≈49 effektiv, organisiert unbekümmert, nachlässig
E Extraversion ≈54 gesellig zurückhaltend, reserviert
A Verträglichkeit ≈42 kooperativ, freundlich, mitfühlend wettbewerbsorientiert, antagonistisch
N Neurotizismus ≈48 emotional labil, verletzlich selbstsicher, ruhig

Im Test NEO-PI-R können noch zusätzlich 30 Facetten unterschieden werden:

Im HEXACO-Modell wird die Facette Ehrlichkeit-Bescheidenheit als eigene 6. Dimmension betrachtet.
In die andere Richtung ist es möglich die 5 Dimensionen in 2 zusammenzufassen:

Das Big-Five-Modell ist oberflächlich, da es auf Beobachtbarkeit und empirische Messbarkeit hin optimiert wurde. Eine genaue situative Vorhersage von Verhalten ist mit ihm nicht möglich, lediglich in emotional angespannten Situationen können mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mehr oder weniger stabile Verhaltensmuster vorhergesagt werden.

Es lässt sich gegenwärtig noch nicht genau sagen, ob es Segen oder Fluch ist, das praktisch sämtliche Big-Data-KI-Modelle auf dieser wenig tiefgründigen Klassifikation aufbauen. Das größte Problem dürfte ohnehin der irrsinnige Energieverbrauch für die gesellschaftlich fragwürdigen Überwachungs-, Profiling- und Nudging-Maßnahmen sein. Nimmt man die Erkenntnisse von Shoshana Zuboff in "Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus " und John Day in "Patterns In Network Architecture: A Return to Fundamentals" zusammen, kann man etwas 80% des Energieverbrauchs der größten IT-Firmen der Welt diesen fragwürdigen Anwendungen zuordnen. Und diese IT-Firmen mit ihren auf Werbung und PR ausgerichteten Geschäftmodellen sind mittlerweile unter den größten Firmen überhaupt. Der Öffentlichkeit wurde aber wie üblich erfolgreich eingeredet, dass individuelles Verhalten dafür verantwortlich ist. Wer auch immer sich die entsprechenden agnatologischen Kampagnen ausgedacht hat.

Defizitorientierte Persönlichkeitstypologie

Mit einer defizitorientierten Klassifikation scheint es mir möglich, Verhalten deutlich tiefgründiger zu verstehen, und somit auch erheblich besser vorherzugesagen. In ihrem Buch "Hochsensibilität in der Liebe" weist Elaine N. Aron darauf hin, dass C. G. Jung den Begriff der Introversion ursprünglich viel weiter definiert hatte. Heute wird der Begriff meist auf soziale Introvertiertheit verkürzt. In Anlehnung ihres Kozepts von Hochsensibilität an Jungs ursprünglichen Begriff der Introversion (1943 S.48ff) sind Introvertierte in diesem Sinne lediglich zu 70 % sozial introvertiert. Die anderen 30 % sind sozial extrovertiert. Jung wiederum vergleicht seine Unterscheidung sogar selbst mit William James Unterscheidung von "tender-minded" und "tough-minded" (1907). Am Beispiel der erbitterten Feindschaft zwischen Adler und Freud beschreibt Jung Introversion und Extraversion als Einstellungstypen und als solche letztlich definiert über ihre Defizite. In Anlehnung an Nietzsche beschreibt er sie als Schattenseite des Menschen. Erscheint das Erste als grüblerisches mißtrauisches Beobachten, so das Zweite als aktionistisches in die Welt Hinausschreiten. In seiner alles durchdringenden Weitung wird der Gegensatz zu einem weltanschaulichen und prinzipiellen, der gekennzeichnet ist durch eine unversöhnliche gegenseitige Entwertung. ("Denn der Wert des einen ist der Unwert des andern.") Aber welche Werte sind hier genau gemeint?

the tender-minded the tough-minded
Rationalistic (going by 'principles') Empiricist (going by 'facts')
Intellectualistic Sensationalistic
Idealistic Materialistic
Optimistic Pessimistic
Religious Irreligious
Free-willist Fatalistic
Monistic Pluralistic
Dogmatical Skeptical

Wenn ich 'religious' durch 'spiritual' ersetze kann ich James Gegenüberstellung zumindest gut nachvollziehen. Doch was genau liegt ihr zugrunde? Wie entsteht sie? Aus einer defizitorientierten Sicht scheinen mir zwei fundamental entgegengesetzte Strategien der Komplexitätsreduktion eine Rolle zu spielen. Diese zwei Strategien ergeben sich aus den zwei grundlegenden Arten von Sprachfunktionen, einerseits Wissen zu repräsentieren und andererseits mittels Sprache sozial zu interagieren (appellative Funktion).

Persönlichkeitsdefizitspektrum grüblerisch aktionistisch
Verhältnis zur Sprache logozentrisch soziozentrisch
hohe Sensibilität gegenüber kognitiver Dissonanz Respektlosigkeit
primäre Orientierung an Wahrheit
logischer Konsistenz
Wohlbefinden
sozialem Status
Menschenbild optimistisch pessimistisch
gravierendstes Defizit soziale Fähigkeiten Verantwortungsgefühl

Natürlich ist beides gleichzeitig möglich, aber beide Funktionen können bereits einzeln eine dramatische Komplexität erreichen, so dass die Konzentration auf eine dieser Funktionen tendenziell zu Lasten der anderen geht. Insbesondere im Bereich der Menschenbilder kann es dabei zu einer erbitterten Feindschaft kommen, bis hin zu der von Jung beschriebenen fundamentalen Inversion der Werte.

Ein hohes Menschenideal kann für Personen aus dem aktionistischen Spektrum als unerträgliche Provokation bzw. persönlicher Angriff empfunden werden, ebenso kann für Personen aus dem grüblerischen Spektrum ein negatives Menschenbild etwas unmöglich tolerierbares sein. Da Personen aus dem aktionistischen Spektrum soziale Regeln wie ihre Muttersprache erlernen, erscheinen ihnen gesellschaftliche Strukturen als quasi naturgegeben, woraus sich paternalistische Einstellungen und Gesellschaftsbilder ergeben. Werden diese paternalistischen Gesellschaftsbilder nicht infrage gestellt, entwickeln sich daraus automatisch negative Menschenbilder, da die nötigen Freiräume für eine positivere Entwicklung nicht gesehen werden können. Personen aus dem grüblerischen Spektrum dem gegenüber erlernen soziale Regeln eher wie eine Fremdsprache, somit erscheinen ihnen soziale Regeln und auch gesellschaftliche Autoritäten ebenso wie Fremdsprachenregeln viel stärker optional und kontingent. Der sich daraus oft entwickelnde Idealismus führt dazu das die Regeln strikter befolgt werden, wohingegen Personen mit negativen Menschenbildern die Einhaltung von Regeln eher als optional betrachten, da in einem feindlichen Umfeld Wiederstand als legitim betrachtet wird.

Für eine tiefergehendere und differenziertere Analyse erscheinen mir die Begriffe des Selbstkonzeptes und des Selbstwertgefühls nützlich zu sein. Fast alle Theorien, Studien und Experimente die ich zum Thema Selbstwertgefühl finden konnte, ignorieren das soziale Umfeld der betrachteten Personen, oder tun sich zumindest schwer damit, genauer hinzuschauen. Das Resultat sind eine Vielzahl widersprüchlicher Ergebnisse bzw. paradoxer Forderungen. Es scheint aus den überwiegend individualistischen Perspektiven nicht gesehen zu werden, dass es für ein Individuum keine Möglichkeit gibt, direkt Einfluss auf das eigene Selbstwertgefühl zu nehmen, sondern immer nur indirekt über den Einfluss auf das eigene soziale Umfeld.

Der vermeintliche Unterschied zwischen einem echten Selbstwertgefühl und einem falschen durch ein aufgeblasenes Ego, welches als oft fragil beschrieben wird, ergibt sich nach meiner transaktionalistischen Sicht aus dem einfachen Umstand, dass es für das soziale Umfeld einen Unterschied macht, ob die Anerkennung die es gibt, durch echtes Engagement oder Manipulationen zu Stande gekommen ist. Täuschungen und Manipulationen implizieren immer die Gefahr entdeckt zu werden. Zugegebenermaßen ist meine Begriffsdefinition für eine empirische Sozialforschung extrem unbequem, da sie schwierig experimentell zu überprüfen ist. Man müsste z.B. über viele Tage sämtliche Interaktionen mit dem sozialen Umfeld kontrollieren bzw. manipulieren. Vergleichbar wäre es nicht vertretbar eine unschuldige Testperson vor ein reguläres Gericht zu stellen. Sie zu verurteilen und einzusperren, um dann zu schauen, was genau dieses mit ihrem Selbstwertgefühl macht. Genauer ist es aus meiner Sicht wichtig das Wechselspiel aus sozialer Anerkennung und Persönlichkeitsdefiziten zu betrachten. Ein übersteigertes Selbstwertgefühl kann sich ergeben, wenn die soziale Anerkennung die Persönlichkeit einer Person übersteigt. In der Regel wachsen Menschen mit ihren Aufgaben, d.h. ihre Persönlichkeit wird komplexer, ihre insbesondere empathischen Fähigkeiten nehmen zu. Verwendet eine Person aber bereits erfolgreiche Techniken z.B. der Täuschung und Manipulation um bestehende Persönlichkeitsdefizite zu kompensieren, kann es für sie erheblich bequemer sein diese Techniken auszubauen als die eigene Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Mit dem Ergebnis einer Zunahme der Persönlichkeitsdefizite. Eine ähnliche Dynamik können wir auch in die andere Richtung beobachten. Verwendet eine Person bereits erfolgreiche Techniken bzw. Strategien um das eigene erniedrigte Selbstwertgefühl zu kompensieren, können negative Rückmeldungen des sozialen Umfeldes ebenfalls zu einer Zunahme der Persönlichkeitsdefizite führen, z.B. durch eine Zunahme devianten oder delinquenten Verhaltens. Eine zentrale Rolle bei all diesen Vorgängen spielt aus meiner Sicht immer wieder das Selbstwertgefühl und das Selbstkonzept.

Bei einem Abstieg in die Abgründe menschlicher Seelen bewegt man sich in einem extremen Spannungsfeld. Auf der einen Seite gibt es von Nietzsche den auch heute noch weitgehend zutreffenden Vorwurf: "Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt." (1886) Andererseits bemerkt Jaspers: "Einen Psychopathen durch die 'Diagnose' eines Typus festzulegen, ist gewaltsam und immer falsch. Menschlich aber bedeutet die Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung nie vergessen werden." (1946 S.365) In der am 1.1.2022 inkraftgetretenen ICD-11 wurden bis auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung die Diagnosen spezifischer Persönlichkeitsstörungen (PS) entfernt. Nach der Abschaffung der Diagnose Psychopathie ein weiterer Schritt in Richtung Jaspers. In jedem Fall ist dieses Thema noch erheblich unangenehmer und belastender als die Berichte des Club of Roms oder des IPCC.

fünf Dimensionen (Grundformen) von Persönlichkeitsdefiziten:

 
borderline F60.3.1 (-A & N)
instabiles Selbstwertgefühl
instabiles Selbstkonzept

Selbstregulationsdefizit
 
  konfliktaffin
ambitioniertes Selbstkonzept
(viele Ziele)
konfliktavers
unambitioniertes Selbstkonzept
(viele Ausreden)
konfliktblind
unterentwickeltes Selbstkonzept
(ungewisse Ziele)
aktionistisch
 
gesellig
übersteigertes Selbstwertgefühl
(oft fragil)
narzisstisch (-A) 50 %
F60.8
Demutsdefizit
histrionisch (-C) 15 %
F60.4
Oberflächlichkeit
 
antigesellig
erniedrigtes Selbstwertgefühl
 
antisozial (-O) 5 %
F60.2
Toleranzdefizit
neurotisch (N) 15 %
Cluster C, F60.6, F60.7, F60.5

Selbstsicherheitsdefizit
 
grüblerisch
 
ungesellig
ungewisses Selbstwertgefühl
 
  eigenartig (-E) 15 %
Cluster A, F60.0, F60.1, F21
defizitäre soziale Fähigkeiten

Die ursprüngliche Inspiration für diese Anordnung bekam ich durch einen Vortrag von Lydia Benecke über Psychopathinnen. Ähnlich der Korrelation zwischen Extraversion im Sinne sozialer Extraversion aus den Big-Five und grüblerisch eigenartigen Persönlichkeitsdefiziten sehe ich ebenfalls Korrelationen zwischen den jeweils vier anderen Dimensionen. Die stärkste Korrelation sehe ich zwischen Neurotizismus und neurotischen Persönlichkeitsdefiziten und die schwächste vielleicht zwischen Offenheit für Erfahrungen und antisozialen Persönlichkeitsdefiziten. Den fünf Grundformen von Persönlichkeitsdefiziten habe ich dann alle gegenwärtig anerkannten PS als quasi extreme Ausprägung der jeweiligen Persönlichkeitsdefizite zugeordnet. Der Schweregrad, ab dem man eine PS diagnostiziert, ist ohne strenge wissenschaftliche Kriterien von Experten festgelegt worden. Man hält aber an dieser Bezeichnung fest, da eine Diagnose von "lediglich" schweren Persönlichkeitsdefiziten den bestehenden Gesundheitssystemen zuwider laufen würde, obwohl es mittlerweile vielfältige Belege gegen die Dauerhaftigkeit von "Persönlichkeitsstörungen" gibt. Auch bekommen mehr als die Hälfte eine Diagnose über mehrere Persönlichkeitsstörungen (Komorbiditäten).

Es hat mich überrascht festzustellen, dass die neue ICD-11 ein sehr ähnliches Schema für eine etwas systematischere Beschreibung ihrer "Persönlichkeitsstörungen" gewählt hat. Auch sie verwendet eine 5-dimensionale Diagnostik plus Borderline-Muster mit zusätzlicher Angabe der Schwere der Störung. Jedoch sind im Vergleich vier der fünf Dimensionen stark reduziert. Das neurotische Spektrum wird reduziert auf Anankasmus (Zwang), das eigenartige auf Distanziertheit, das histrionische auf Enthemmung und das narzisstische auf negative Affektivität. Die antisozial bzw. dissoziale PS war immer schon eine stark fokussierte Diagnose. Negative Affektivität könnte aber auch der neurotischen Dimension zugeordnet werden. Dann wäre die narzisstische Dimension komplett ausgeblendet. Kurios wirkt auf mich, dass die bisherigen Diagnosen ins neue Schema nur sehr verlustbehaftet übersetzt werden können. Um wenigstens Borderlinebetroffene auch in Zukunft die wirksamen Therapien sichern zu können, wurde diese Diagnose als zusätzliches Muster hinzugefügt. Schon fast ironisch wirkt, dass damit in einer stark narzisstischen Gesellschaft die unbequeme Diagnose Narzissmus mehr oder weniger abgeschafft wird, da durch eine Reduzierung von narzisstischen Persönlichkeitsdefiziten auf negative Affektivität die Unterscheidung zwischen Narzissten und nichtnarzisstischen Mobbingopfern nicht mehr möglich ist. Anstatt bei der Schärfe der Diagnose "Persönlichkeitsstörung" abzurüsten, flüchtet man ins Unbestimmte. Dem gegenüber würde ich Jaspers teilweise zustimmend lieber von bestimmten mehr oder weniger schweren Persönlichkeitsdefiziten sprechen.

Die Borderline-PS habe ich als eine spezifische Kombination aus narzisstischen und neurotischen Persönlichkeitsdefiziten mit eigener Dynamik der Vollständigkeit halber außerhalb mit aufgenommen. Auch bei der schizoiden PS sehe ich bedeutende Anteile neurotischer Persönlichkeitsdefizite. Für den gesamten Cluster B (narzisstisch, antisozial, histrionisch und borderline) und somit für drei der fünf Grundformen ist ein egozentrisches und launisches Verhalten mit Impulskontrollschwäche charakteristisch, abhängig von der stärke der Defizite. Bei allen Persönlichkeitsdefiziten gemeinsam findet sich ein Mangel an Ambiguitätstoleranz, Frustrationstoleranz und Komplexitätstoleranz, die sich gegenseitig bedingen. Die geläufigsten Strategien zur Komplexitätsreduktion sind Empathieverweigerung, Reflexionsverweigerung und strategische Indifferenz. Aus einer anderen Perspektive könnte man sagen, dass alle Formen von Persönlichkeitsdefiziten mit unterschiedlichen Formen von Defiziten im Bereich Mentalisierung bzw. Empathie wechselwirken. Die Fähigkeit ein Gefühl dafür zu entwickelt, was Personen im sozialen Umfeld denken wird in unseren modernen zunehmend fragmentierteren Gesellschaften immer schwieriger. Gleichzeitig nehmen Anforderungen bzw. Erwartungen an den Einzelnen immer weiter zu.

Während die Anlagebedingtheit der Persönlichkeitsdefizite ähnlich den Big-Five um die 50 % liegen dürfte, gibt es stärker anlagebedingte Diagnosen mit ähnlichen Symptomen aber mit deutlich anderen Ursachen und Dynamiken:

narzisstisch AD(H)S F90
histrionisch Williams-Beuren-Syndrom Q78.8
neurotisch Fetales Alkoholsyndrom Q86
eigenartig Hochsensibilität HSP, Asperger-Syndrom F84.5, Frühkindlicher Autismus F84.0
borderline Bipolare Störung F31

Da es sich hier primär um sozialphilosophische Betrachtungen handelt, verzichte ich auf die Darstellung neurologischer und biochemischer Zusammenhänge, ohne jedoch deren Bedeutung leugnen zu wollen.

Angst

Bei Tieren gibt es bei Angst drei instinktive Verhaltensweisen: Kampf-, Flucht- und Totstellreflex. Menschen mit ihren vielfältigen Welt- und Selbstverhältnissen haben ein deutlich komplexeres Innenleben, folglich gehen sie höchst unterschiedlich mit Angst und Gefahren um. Menschen die unter schweren neurotischen Persönlichkeitsdefiziten leiden sind zwar in ihrer Persönlichkeit nicht so vielfältig wie solche aus dem eigenartigen Spektrum, dafür sind neurotische Persönlichkeitsdefizite insgesamt weiter verbreitet, insbesondere unter Menschen mit psychischen Problemen. Die Vielfalt der Gründe für Angst wiederum scheint fast grenzenlos zu sein. Fritz Riemann hat mit seinem Buch Grundformen der Angst von 1961 bis heute einen beachtlichen Erfolg. Auch wenn die feste Zuordnung seiner vier Grundformen zu vier Persönlichkeiten nicht dem aktuellem Stand der Persönlichkeitspsychologie entspricht, und eine feste Zuordnung ohnehin fragwürdig ist, scheint er mit tendenziell sehr vagen Argumenten zumindest etwas Ordnung in das chaotische Gebiet der Ängste gebracht zu haben. Seine vier Grundformen sind die Angst vor der Veränderung, vor der Endgültigkeit, vor Nähe und vor der Selbstwerdung. Im Riemann-Thomann-Modell findet dahingehend eine Vereinfachung statt, dass zwei Grundformen als räumlich und zwei als zeitlich gegensätzliche Ausrichtungen übersetzt werden. Übertragen auf meine fünf Grundformen von Persönlichkeitsdefiziten sehe ich folgende stärkere Korrelationen:

narzisstisch  
antisozial  
histrionisch Angst vor Dauer
neurotisch Angst vor Wandlung & Distanz
eigenartig Angst vor Nähe

Im konfliktaffinen Spektrum mit seiner Orientierung an und Fokusierung auf vielfältige Ziele sind Handlungen deutlich seltener durch Ängste geleitet bzw. initiiert. Die starke Fokussierung auf Ziele scheint es hierbei zu ermöglichen Ängste abzubauen bzw. die Entstehung von Ängsten zu verhindern. Bei der zwanghaften PS sehe ich eine starke Korrelationen mit Angst vor Wandlung, und bei der abhängigen und der ängstlich-vermeidenden PS mit Angst vor Distanz. Ängstlich-vermeidende Verhaltensweisen können aus meiner Sicht aber auch ein Symptom eigenartiger Persönlichkeitsdefizite sein, und würden als solche eine andere Dynamik zeigen.

Die häufigsten und stärksten Ängste ebenso wie eine Vielzahl von Phobien fehlen aber in Riemanns Aufzählungen. Die Angst vor Abwertung durch die unterschiedlichsten Formen von Gewalt und die tendenziell spirituelle Angst vor der Angst werden nur am Rande gestreift. Praktisch jede soziale Interaktion kann zumindest in der Art wie sie ausgeführt wird als Form der Anerkennung oder der Verweigerung eben dieser interpretiert werden. Diese Interpretationen sind grundsätzlich unsicher, da Absichten und Motive nicht direkt sichtbar sind. Insbesondere für Außenstehende können deshalb subtile Formen des Mobbings nur sehr schwer erkannt werden. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit von Mobbing betroffen zu sein über die verschiedenen Persönlichkeitsdefizitspektren nicht gleichverteilt ist, kann jeder zum Ziel von Gewalt und Abwertungen werden.

Insgesamt ergeben sich folgende 10+X Dimensionen der Angst:
in Bezug auf Gewalt
1. existenzielle Angst (Angst abgewertet zu werden)
2. Angst vor Verantwortung (zu werten mit den folgenden Konsequenzen)
in Bezug auf Herrschaft
3. Angst vor Abhängigkeit
4. Angst vor Freiheit
in Bezug auf das Dasein
5. Existenzangst (Lebensangst)
spirituell
6. Angst vor der Angst (vor dem Tod)
räumlich
7. Angst vor Nähe
8. Angst vor Distanz
zeitlich
9. Angst vor Wandlung
10. Angst vor Dauer
in Bezug auf bestimmte Objekte, Situationen oder Räumlichkeiten
X. Phobien

Das Spektrum histrionischer Persönlichkeitsdefizite

Für mich sind Menschen genuin soziale Wesen. Was für mich auch erklärt, dass von den fünf Dimensionen von Persönlichkeitsdefiziten historisch betrachtet die beiden geselligen die gesellschaftlich dominanten Persönlichkeitsdefizite sind. Abhängig von der Stärke dieser Defizite ist beiden ein übergroßes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung gemeinsam, da sie sich quasi zum Selbstschutz ein überhöhtes Selbstwertgefühl zugelegt haben. Während für histrionische Persönlichkeitsdefizite die Ursachen eher in einer Vernachlässigung und somit in indirekten Abwertungserfahrungen zu finden sind, sind es bei narzisstischen eher direkte Abwertungserfahrungen. Menschen mit geselligen Persönlichkeitsdefiziten neigen stärker als andere dazu ihr Umfeld zu manipulieren. Solange dieses in ausreichendem Maße gelingt, gibt es im Allgemeinen keine Einsicht in ihre Probleme und somit extrem schlechte Chancen für eine erfolgreiche Therapie.

Gesellschaften in frühen Kulturen waren primär geprägt durch Personen mit histrionischen Persönlichkeitsdefiziten. In Despotien lässt sich eine anteilige Zunahme an antigeselligen Defiziten beobachten. Erst durch das Geld und die damit verbundene gegenseitige Entfremdung nahmen ambitionierte Selbstkonzepte zu, und narzisstische Persönlichkeitsdefizite begannen zunehmend dominant zu werden.

Das Spektrum narzisstischer Persönlichkeitsdefizite

Von den fünf Grundformen sind narzisstische Persönlichkeitsdefizite nicht nur die gesellschaftlich problematischsten, sondern ebenfalls diejenigen über die es die meiste Literatur gibt. Dabei folgen die Meinungen oft der Theorie von Alfred Adler, wonach Narzissten ihre Minderwertigkeitskomplexe bzw. ihr niedriges Selbstwertgefühl überkompensieren. Empirische Untersuchungen jedoch deuten auf ein durchgängig übersteigertes Selbstwertgefühl hin. Am plausibelsten erscheint es mir, dieses im Kern als Resultat einer Selbstüberhöhung als Selbstschutz gegen frühere Kränkungen bzw. Gewalt zu betrachten. Anstatt an sich selbst zu arbeiten, um das gewünschte positive Feedback zu bekommen, arbeiten Narzissten an ihrem sozialen Umfeld. Narzissten täuschen ihr Umfeld und oft auch sich selbst nicht über ein verheimlichtes niedriges Selbstwertgefühl sondern über ihre mehr oder weniger heimliche Geringschätzung ihres Umfeldes. Das übersteigerte Selbstwertgefühl ist oft fragil, da eine solche Täuschungsstrategie ein unsicheres Unterfangen ist, und jede Kritik könnte ein Vorbote für ein Scheitern dieser Strategie sein. Anders betrachtet ist ein übersteigertes Selbstwertgefühl zwar immer unauthentisch, aber es ist ähnlich wie echte Wertschätzung geeignet vor den negativen Auswirkungen von Abwertungserfahrungen zu schützen.

Um alle Phänomene im Zusammenhang mit narzisstischen Persönlichkeitsdefiziten angemessen beschreiben zu können, ist aus meiner Sicht die Unterscheidung von mindestens zwei echten Formen von Narzissmus und von zwei unechten notwendig. Die beiden echten Formen sind der grandiose und der verdeckte bzw. vulnerable Narzissmus. Wärend grandiose Narzissten kein Problem damit haben ihre Geringschätzung offen zu zeigen, sind verdeckte Narzissten stärker darauf bedacht sie zu verheimlichen. Sie sind im Allgemeinen weniger erfolgreich darin ihr Umfeld zu Ihrem Vorteil zu manipulieren. Oberfächlich betrachtet ist ihr Verhalten nur schwer von dem eines nichtnarzisstischen Mobbingopfers zu unterscheiden. Erst eine tiefgründige und aufwändige Betrachtung kann hier Klarheit schaffen. Verdeckte Narzissten sind aufgrund ihres geringen Selbstbewusstseins öfter von Mobbing betroffen. Mobbingopfer reagieren auf Provokationen oft aggressiv, verdeckte Narzissten tun dies zusätzlich auch aufgrund ihrer Geringschätzung z.B. durch herablassende Vorwürfe, oft zusammen mit Empathieverweigerung. Darüber hinaus ist gesellschaftlich betrachtet ein Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Mobbing und zunehmenden narzisstischen Tendenzen sehr wahrscheinlich, da eine narzisstische Einstellung ein effektiver Schutz davor zu sein scheint ein Mobbing-Syndrom zu entwickeln. Die daraus resultierenden immer aggressiveren gegenseitigen Demütigungen können in eine Abwertungsspirale münden.

Die ganze Sache wird aber noch unübersichtlicher wenn man die beiden unechten Formen des Narzissmus hinzunimmt. Zum einen ist oft von einem guten, gesunden oder neutralen Narzissmus die Rede. Dabei wird dieser als eine gesunde Selbstliebe definiert. Ich bin zunehmend mehr geneigt diese Definitionen selbst als narzisstische Verwirrspiele und somit Schutzbehauptungen zu betrachten, ausgedacht um den eigenen Narzissmus zu relativieren. Die mir bekannten derartigen Definitionen führen zu unauflösbaren Widersprüchen. Narzissmus könnte man als Kompensation für einen Mangel an Selbstliebe beschreiben, und somit eher als ihr Gegenteil. Sich selbst zu lieben erfordert nicht, andere abzuwerten, insofern sind Selbstliebe und Narzissmus etwas sehr verschiedenes. Bei genauer Betrachtung ist etwas gemeint, was man als funktionalen oder gesellschaftskonformen Narzissmus bezeichnen könnte, der darin besteht, dass die Stärke und Art der narzisstischen Ausprägungen einer vermuteten gesellschaftlichen Norm entsprechen. Viele Couchings und Therapien, die behaupten Selbstreflexion, Selbstliebe oder ein gesundes Selbstwertgefühl zu trainieren, trainieren im Endeffekt einen solchen gesellschaftskonformen Narzissmus, z.B. um effektiv seltener das Opfer von Mobbing zu werden. Eine dritte echte Form ergibt sich daraus jedoch nicht, da im Erfolgsfall der erlernte Narzissmus einer der beiden bereits definierten Formen zuordenbar ist. Einem gesellschaftskonformen Narzissmus kommt der Vortrag über Narzissmus des Paar- und Sexualtherapeuten Stefan Muth wahrscheinlich recht nahe. Aus einer anderen Perspektive könnte man auch sagen, dass Selbstliebe ein ausgeprägtes Gefühl für sich selbst bzw. Selbst-Empathie voraussetzt, bei Narzissten ist im Allgemeinen gerade diese Selbst-Empathie beeinträchtigt.

Spätestens nachdem Nietzsche das Nachdenken über die Schattenseiten der menschlichen Psyche revolutioniert hatte, entwickelte sich eine weitere unechte Form, welche den Narzissmus ironisch denunziert. Diese Form möchte ich als ironischen Narzissmus bezeichnen. Ein Großmeister in dieser Disziplin ist aus meiner Sicht Woody Allen. Neben vielem anderen finden sich in seinem Werken viele komödiantische Darstellungen unterschiedlichster Persönlichkeitsdefizite, in der Hauptsache jedoch neurotische und narzisstische. Bei manchen Darstellungen von narzisstischen Defiziten handelt es sich bei genauer Betrachtung jedoch um vorgetäuschte Defizite. Die Gemeinheiten bestehten gerade darin, dass die eingebauten ironischen Brechungen mitunter alles andere als offensichtlich sind. Ähnlich wie bei der Unterscheidung zwischen verdeckten Narzissten und nichtnarzisstischen Mobbingopfern ist auch hier eine tiefgründige und aufwendige Betrachtung der dargestellten psychischen Dynamiken erforderlich, um das eine vom anderen unterscheiden zu können. Insbesondere in Amerika reagieren viele negativ auf das Werk von Woody Allen. Die Reaktionen bewegen sich dabei in einem Spektrum von herablassend bemitleidend belustigtem Desinteresse bis moraliner Entrüstung. Aus meiner Sicht kommt das daher, dass es niemanden gibt, der es so wie er versteht, Alltagsnarzissmus virtuos auf die Schippe zu nehmen. Somit erscheint er bisweilen wie die ultimative Provokation gegen eine narzisstische Mehrheitsgesellschaft, die es gewohnt ist, sich in einer weitgehenden Sicherheit wiegen zu können, für ihren Narzissmus nicht angeklagt zu werden. Wenn man sich Talkshow Auftritte von Woody Allen aus den 60er Jahren z.B. aus der The Dick Cavett Show anschaut, kann man sehen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Gerade in Bezug auf seinen ironischen Narzissmus wirkt er heute mitunter etwas wie der Ritter von der traurigen Gestalt.

Die beiden echten Formen des Narzissmus sollte man nicht kategorial betrachten. Vielmehr stellen sie die beiden Extreme eines Kontinuums dar. Wenig überraschend gibt es empirisch von diesem Kontinuum eine Korrelation zu der Dimension Extraversion. Es ist aus meiner Sicht jedoch falsch, hier einen direkten kausalen Zusammenhang zu sehen. Vielmehr scheint mir die Frage nach dem Erfolg narzisstischer Manipulationen das entscheidende Kriterium für dessen Ausprägung zu sein. Änderungen in der Dimension Extraversion können Änderungen des Erfolgs und somit ebenfalls des Narzissmus zur Folge haben, ändert sich aber der Erfolg nicht, tut dies auch der Narzissmus nicht.

Manchmal ist noch die Rede von einem malignen Narzissmus. Diesen würde ich als Synonym für Psychopathie betrachten, da Narzissmus für sich betrachtet noch nicht bösartig ist.

Das Spektrum eigenartiger Persönlichkeitsdefizite

Man könnte das grüblerisch eigenartige Spektrum als massiv erweitertes autistisches Spektrum beschreiben. Allen Diagnosen dieser Grundform ist gemein, dass sie sich auf eine beeinträchtigte bzw. gestörte soziale Integration bzw. verlangsamte soziale Entwicklung zurückführen lassen. Die Gründe hierfür ebenso wie die konkreten Ausprägungen sind sehr vielfältig, trotz vieler Gemeinsamkeiten. Zwischen Autismusdiagnosen und solchen aus dem Cluster A gibt es signifikante Korrelationen. Z.B. erfüllen 26 % der autistischen Menschen die Kriterien einer schizoide PS. Indem ich Hochsensibilität zumindest teilweise diesem Spektrum zuordne, definiere ich diese als Temperament mit subsymptomatischen leicht autistischen Zügen. Aus meiner Sicht fangen Kinder erst ab einer bestimmten Schwere ihrer Beeinträchtigungen an pseudosoziale Ersatzinteraktionen zu verwenden. Z.B. fällt es vielen schwer ihren Gesprächspartnern in die Augen zu schauen. Um aber sozialen Erwartungen Rechnung zu tragen gewöhnen sich einige an, einen Punkt zwischen den Augen zu fixieren. Damit verhalten sie sich aber noch merkwürdiger, und koppeln sich noch stärker von einer normalen sozialen Entwicklung ab, als wenn sie versuchen würden ihre Schwierigkeiten zu kommunizeren. Im Ergebnis entwickeln Sie typische Symptome des Asperger Syndroms. Bei Kanner-Autismus bzw. frühkindlichem Autismus wiederum geht die Abkopplung sogar soweit, dass erst stark verzögert oder gar nicht Sprechen gelernt wird. Die Diversität innerhalb des eigenartigen Spektrums beinhaltet ebenfalls eine Menge Nonkonformismus und Exzentrik, und ist im Gegensatz zur landläufigen Meinung, einschließlich eigentlich psychologisch gebildeter Personen, erheblich größer als in allen anderen Spektren zusammen. Der Grund liegt in der um ein Vielfaches größeren Neurodiversität z.B. von autistischen Menschen und einem Desinteresse oder sogar einer konformistisch moralischen Ablehnung eben dieser durch die Mehrheitsgesellschaft. Neurodiverse Abweichungen innerhalb des aktionistischen Spektrums werden und wurden damit verglichen erheblich stärker toleriert.

Die Sache mit der Hochsensibilität ist kompliziert. Elaine N. Aron nennt mehrere Definitionen, verwendet aber letztlich eine sehr weite (20-30%) die aber das autistische Spektrum (ca. 3%) ausschließt. Ich spreche auf James zurückgehend vom grüberisch eigenartigen Spektrum (15%) das Autismus einschließt, verwende somit eine Unterscheidung die gleichzeitig enger und weiter ist. Betrachte ich die Bücher und Kommentare auf YouTube zu diesem Thema, so sehe ich viele Beschreibungen die primär neurotische Symptome zu beschreiben scheinen. Natürlich schließt jeweils das Eine das Andere nicht aus, und Personen aus dem grüberisch eigenartigen Spektrum haben oft auch neurotische Defizite. In der Praxis hat es sich für mich bewährt entsprechende Personen zu fragen, ob sie sich in den Hauptfiguren des Films "Die anonymen Romantiker" irgendwie wiedererkennen. Leben ist immer ein dynamischer Prozess aus Sensibilisierungen und Desensibilisierungen, aber eigenartigen und neurotischen Persönlichkeitsdefiziten liegen aus meiner Sicht deutlich unterschiedliche Dynamiken zugrunde. Auf jeden Fall betrachte ich hochsensible Menschen im Gegensatz zu Aron nicht als moralisch höherstehender, da sie nicht per se empathischer gegenüber anderen Menschen sind.

Die paranoide PS würde ich tendenziell nicht als eine eigenständige PS betrachten. Drei Viertel der Menschen mit einer paranoiden PS haben weitere Komorbiditäten, vor allem schizotypische, narzisstische, selbstunsichere, Borderline- und passiv-aggressive PS. Der Paranoia liegen also wahrscheinlich andere eigenartige, narzisstische und/oder neurotische Defizite zugrunde. Ähnlich wie bei Depressionen dürfte es somit auch hier sehr verschiedene paranoide Defizite mit sehr unterschiedlichen Dynamiken geben.

Das Spektrum antisozialer Persönlichkeitsdefizite

Das wahrscheinlich deutlichste Merkmal von Menschen mit starken antisozialen Persönlichkeitsdefiziten ist ihre Unfähigkeit Fehler einzugestehen. Aufgrund ihres niedrigen Selbstwertgefühls verfügen sie nicht über die Ressourcen anderen gegenüber Schwäche zeigen zu können. Bei ihnen tritt auch der praktisch alle Konflikte zumindest mit begleitende Kampf um Anerkennung am deutlichsten hervor. Kleinste Respektlosigkeiten können heftige Reaktionen hervorrufen. Da die herrschende Moral als feindselig wahrgenommen wird, bilden sich oft subkulturell eigene Wertmaßstäbe, die wiederum zur Verfestigung delinquenter Einstellungen führen können. Dazu kommt, dass die feindselige Haltung gegenüber der Gesellschaft eigene Abwertungserfahrungen abschwächen kann. Allgemien lässt sich dieses Spektrum durch ausgeprägtes deviantes Verhalten charakterisieren. Wenn man den Begriff der Devianz so verengen würde, dass abweichendes Verhalten auf der Basis eines Nicht-, Ungenügend- oder Falschverstehens von sozialen Regeln, wie es bei Exzentrikern der Fall ist, ausgeschlossen wäre, könnte man dieses Spektrum auch als deviantes Spektrum bezeichnen.

Psychopathie und Soziopathie

Starke Persönlichkeitsdefizite in mehreren Dimensionen erzeugen nicht nur potenziell mehr Konflikte und Spannungen mit dem sozialen Umfeld sondern sie erzeugen sehr starke innere Widersprüche, welche ich als Persönlichkeitsdefizitspannung (PDS) bezeichnen möchte. Da es sich hierbei nicht lediglich um Dissonanzen sondern um tiefgreifende fundamentale Widersprüche handelt, ist das Wohlbefinden stark eingeschränkt. Normalerweise konzentrieren sich Persönlichkeitsdefizite auf eine Dimension. Wenn aber besonders komplexe Traumatisierungen bzw. Gewalterfahrungen in der Entwicklung passierten, können sich komplexere Muster von Persönlichkeitsdefiziten herausbilden. Solange sich Persönlichkeitsdefizite auf eine Dimension beschränken, besteht zumindest theoretisch die Möglichkeit, dass nur das soziale Umfeld unter den Persönlichkeitsdefiziten leidet, ohne die Demütigungen zurückzugeben. Unter diesen Bedingungen ist selbst bei gößeren Persönlichkeitsdefiziten ein glückliches Leben möglich. Bei einer erhöhten PDS bzw. bei komplexen Mustern von Persönlichkeitsdefiziten finden die Demütigungen jedoch intrapersonal statt. Hier gibt es nur noch die Möglichkeit der Frustrations- oder Aggressionsabfuhr um Entlastung zu schaffen. Ein angenehmes Leben ist nicht mehr möglich. Die Größe der PDS ist neben der Größe der jeweiligen Defizite maßgeblich abhängig davon, um welche der drei Unterscheidungen es sich handelt. Die Unterscheidung zwischen geselligen und antigeselligem Spektrum erzeugt die geringsten Widersprüche, die zwischen aktionistischem und grüblerischem die größten.

Nach Lydia Benecke haben Psychopathen im Bereich von mindestens zwei Cluster B Persönlichkeitsstörungen hohe Werte. Die bekannteste Kombination ist die primäre Psychopathie bestehend aus schweren narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsdefiziten, die sekundäre Psychopathie bestehend aus schweren narzisstischen und Borderline-Persönlichkeitsdefiziten. Psychopathen mit hohen Werten in mehr als zwei Cluster B Persönlichkeitsstörungen sind sehr selten, da diese eine noch extremere PDS haben. Nach Benecke gibt es auch öfters insbesondere Psychopathinnen die eine Kombination aus schweren narzisstischen und histrionischen Persönlichkeitsdefiziten haben. Ich würde vorschlagen diese Kombination als tertiäre Psychopathie zu bezeichnen. Darüber hinaus müsste es noch drei Kombinationen ohne schwere narzisstische Persönlichkeitsdefizite geben, aber zum einen beinhaltet eine Borderline-PS immer auch narzisstische Anteile, und eine Kombinationen aus antisozialen und histrionischen Persönlichkeitsdefiziten ohne narzisstische Anteile erscheint mir nicht sehr wahrscheinlich bzw. relevant. Anders gesagt sehe ich schwere narzisstische Persönlichkeitsdefizite als zentral für jede Psychopathie. Was die Frage zur Folge hat, ob es auch eine Kombination aus narzisstischen und eigenartigen Persönlichkeitsdefiziten geben kann. Betrachtet man die Kunstfigur Sherlock aus der gleichnamigen Fernsehserie, scheint es zumindest möglich zu sein, eine solche Persönlichkeit glaubhaft zu konstruieren. Auch die Selbstbezeichung als Soziopath scheint mir passend zu sein, wobei geläufige Verwendungen dieses Begriffs eher der primären oder sekundären Psychopathie ähneln, oder einer Unterscheidung zwischen anlagebedingter und erworbener Psychopathie getroffen wird. Um natürlich von dieser Kunstfigur zu realen Persönlichkeiten zu kommen, müsste man natürlich noch die negativen Emotionen, Widersprüche, Selbstzweifel und irrationale Gewalt hinzufügen, die zur Erhöhung der Konsumierbarkeit bei Filmproduktionen oft weggelassen werden. Nicht jeder ist bereit, sich eine Serie wie Dirty John anzuschauen, bei der ein echter Fall eines Psychopathen versucht wurde realistisch darzustellen. Bei einer Kombination aus narzisstischen und eigenartigen Persönlichkeitsdefiziten dürfte es bereits bei mittelschweren Defiziten eine beträchtliche PDS geben, da der Widerspruch zwischen dem grüblerischen und dem aktionistischen Spektrum der stärkste von allen ist. Um so größer die PDS ist, um so stärker handeln Betroffene wie Getriebene, oft mit der Folge des Missbrauch von psychoaktiven Substanzen, von Depressionen und suizidalem Verhalten. Auch hier gilt erneut, dass es bequemer ist zu versuchen diese Spannungen zu externalisieren als an den eigenen Defiziten zu arbeiten. Aus meiner Sicht könnte man Soziopathie auch als quartäre Psychopathie oder als Unterform der Psychopathie bezeichnen. Eine eigenständige Bezeichnung ergibt trotzdem Sinn, weil es eine Anzahl Inversionen zwischen narzisstischem und eigenartigem Spektrum gibt. Bei Narzissten gibt es oft einen Mangel an emotionaler Empathie aber eine normal ausgeprägte kognitive Empathie. Bei Personen im eigenartigen Spektrum ist es oft genau anders herum. Eine andere Interpretation für die Konsumierbarkeit der Kunstfigur Sherlock wäre, dass Sherlock zwar soziopathisch veranlagt ist, aber aufgrund seiner Intelligenz lediglich mit seiner Veranlagung spielt, ohne wirklich soziopathisch zu sein.
 

Durch Astrid Lindgren und andere wurde die Verbannung physischer Gewalt aus der Kindererziehung, zu einer weit verbreiteten Errungenschaft. Zum Teil wurde jedoch lediglich physische Gewalt durch psychische Gewalt ersetzt. Später wurde erkannt dass eine ausgeprägte Ich-Stärke die Frustrationstoleranz fördert. Manchem pädagogischen Konzept erschien dieser Weg zu aufwendig, so dass man versuchte die Frustrationstoleranz direkt zu trainieren. Die Ergebnisse sehen teilweise aus wie Mobbingkurse. Ebenfalls kann eine zu starke Fokussierung auf das Thema Resilienz für unschuldige Mobbingopfer eine tendenzielle Täteropferumkehr bedeuten. Die neueste wichtige Einsicht besteht darin, dass starke Bindungen Empathie und Achtsamkeit begünstigen. Auch hier gibt es wieder Versuche abzukürzen, indem z.B. Achtsamkeit direkt eingeübt wird. Dieses scheint jedoch eher Unverbindlichkeit und Narzissmus zu begünstigen, also das Gegenteil von starken Bindungen.


Für die Entstehung des deutschen Faschismus scheint es mir neben den bereits bekannten Gründen ein weiterer historisch bedeutsam zu sein. Die seit der Französischen Revolution trotz Rückschlägen stattfindenden Entwicklungen hin zur Demokratie fanden in Deutschland verspätet statt. Der damit zusammenhängende auf mehreren Ebenen stattfindende Rückzug autoritärer Herrschaft jedoch kulminierte und konzentrierte sich in Deutschland im Jahre 1918.

Die Folge war ein deutlich größerer Macht- und Legitimationsmangel als in anderen Ländern, in denen diese Entwicklungen weniger abrupt und zeitversetzt stattfanden. Die 14 Jahre Weimarer Republik waren geprägt vom Kampf um diesen Macht- und Legitimationsmangel.


Für Michel Foucault ist Macht das Entwicklungs- und Integrationsprinzip moderner Gesellschaften. Daran schließt sich aus meiner Sicht die Internalisierung gesellschaftlicher Widersprüche an. In dem Maße in dem die Externalisierung gesellschaftlicher Widersprüche an ihre Grenzen geriet, blieb nur noch ihre Internalisierung als Möglichkeit ihrer Entschärfung übrig. Heute kulminiert diese Entwicklung in einem Transformationsschock durch eine vierfache Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche:

 

Wie Jean M. Twenge eindrucksvoll aufzeigt (2009, 2017), kam die Zunahme narzisstischer Tendenzen zum Stillstand. Dafür nehmen seit etwa 2010 depressive Symptome massiv zu.







Die Statistiken legen nahe, dass mit dem Erfolg der sozialen Medien die allgemeine Zunahme narzisstischer Defizite sich umgekehrt hat, und dafür depressive Symptome stark zugenommen haben. Im krassen Gegensatz dazu geht die landläufige Meinung davon aus, dass die sozialen Medien die Menschen narzisstischer gemacht haben. Dagegen ist der vorhandene Narzissmus durch sie augenscheinlich nur etwas sichtbarer geworden. Die negativen Auswirkungen der letzten Krisen sind in den Statistiken von Jean M. Twenge noch nicht enthalten.

Am Ende war es Jung selbst, der nicht nur Introversion auf soziale Introvertiertheit reduzierte, sondern in seiner Lehre über psychologische Typen auch defizitorientierte mit ressourcenorientierten Kategorien mischte.

Ressourcenorientierte Persönlichkeitstypologie

Es gibt wohl kaum ein Thema zu dem derart viel Verworrenes veröffentlicht wird, wie zum Thema Empathie. Nur die wenigsten scheinen bereit zu sein einzugestehen, dass es keinen Sinn ergibt derart viele unterschiedliche Modalitäten des menschlichen Miteinander unterschiedslos unter einem Begriff zu subsumieren. Zum einen sind Forderungen nach Empathie immer hochgradig moralisch aufgeladene Forderungen. Zum anderen scheint es vielfältige mehr oder weniger strategische konzeptionelle Verwirrspiele zu geben, mit dem Zweck bei diesem Thema nicht so genau hinzuschauen.

Aus meiner Sicht muss man mindestens 9 (bzw. 18) Modalitäten unterscheiden.

  Emotionalität Rationalität Perzeptivität
Emotion (weiter unterteilbar nach
einzelnen Emotionen)
emotionale (Selbst-)Empathie
(Mitgefühl/emotionale Ansteckung)
emotionale (Selbst-)Emlogie
(Menschenkenntnis)
Gefühls(selbst)wahrnehmung /
Gefühls(selbst)blindheit
Kognition (weiter unterteilbar nach
einzelnen Denkmustern z.B. Narrative,
Stereotype, Haltungen, Konstrukte)
kognitive (Selbst-)Empathie
(Mentalisierung)
kognitive (Selbst-)Emlogie
(Theory of Mind/Perspektivübernahme)
Gedanken(selbst)wahrnehmung /
Gedanken(selbst)blindheit
(z.B. Lügen(selbst)blindheit)
Sozialität (weiter unterteilbar nach
einzelnen Handlungsmustern
z.B. Rituale, Rollen, Skripte)
soziale (Selbst-)Empathie
(Weltgewandtheit, Schlagfertigkeit)
soziale (Selbst-)Emlogie
(soziale Kompetenz)
Sozial(selbst)wahrnehmung /
Sozial(selbst)blindheit

Die drei Kategorien Emotionalität, Rationalität und Perzeptivität sind in dieser Tabelle als hochgradig interdependent zu verstehen. D.h. hier sind nicht eine abstrakt geweitete kalte Rationalität bzw. heiße Emotionalität gemeint sondern temperierte. Ebenso wie die interdependente Perzeptivität einer abstrakten Rezeptivität gegenüber gestellt werden kann. Aufgrund dieser starken Interdependenzen gibt es ebenfalls starke Abhängigkeiten zwischen den entsprechenden Ressourcen. Die Kategorien behalten trotz der Interdependenzen ihre bedingten Eigenständigkeiten bzw. Unterscheidbarkeiten.

Aufgrund der unüberschaubaren Anzahl unabhängiger Dimensionen ist eine effiziente ressourcenorientierte Klassifikation nur in ausgewählten Teilbereichen möglich. Im Bereich Psychotherapie ist die defizitorientierte Sicht lediglich wichtig für eine hilfreiche Diagnose. Für eine erfolgreiche Therapie ist die ressourcenorientierte Sicht d.h. die empathischen Fähigkeiten von Therapeuten und Klienten erheblich wichtiger.

Bei einem zu viel an Empathie besteht die Gefahr einer Persönlichkeitsüberdehnung, wie Fritz Breithaupt in seinem Buch "Die dunklen Seiten der Empathie" anschaulich darstellt.

Literatur

C. G. Jung, Über die Psychologie des Unbewußten, 1943
Elaine N. Aron, Hochsensibilität in der Liebe, 2006
Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse – Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, 1886
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, 1887
Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, 2017
Fritz Riemann, Grundformen der Angst, 1961
Jean M. Twenge, iGen: Why Today's Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy ..., 2017
Jean M. Twenge, The Narcissism Epidemic: Living in the Age of Entitlement, 2009
John Day, Patterns In Network Architecture: A Return to Fundamentals, 2007
Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018
William James, Pragmatism: a new name for some old ways of thinking, 1907
 

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