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Pangnotologie

Die Pangnotologie möchte ich hier definieren als die Wissenschaft, die sich mit unbewussten Dynamiken und bewussten Techniken und Strategien beschäftigt, welche dazu führen, dass unbequeme Wissenslücken verschwinden oder gar nicht erst sichtbar werden. Sie wäre als solche das komplementäre Gegenstück zu einer Agnotologie bei der es um Dynamiken, Techniken und Strategien geht, unbequemes Wissen zu diskreditieren, zu relativieren, zu marginalisieren oder auch nur zu verzögern. Dieses geschieht vorzugsweise indem unbequemem Wissen bequemes Pseudowissen als mindestens ebenbürtig gegenübergestellt wird. Die von den Wissenschaftshistorikern Londa Schiebinger und Robert N. Proctor eingeführte Agnotologie wurde bekannt insbesondere durch die Beschäftigung mit Wissenschaftsleugnung in Bezug auf die Gefahren des Tabakkonsums und des Klimawandels. Dabei ging es ursprünglich um Techniken und Strategien der Manipulation und der Täuschung durch Wirtschaftsunternehmen und Verbände. Damit wechselwirkend wurden jedoch individuelle und kollektive Dynamiken der Selbsttäuschung, Selbstberuhigung und Verdrängung wichtig, und daraus folgend deren Einfluss auf kulturelle und politische Dynamiken. Der Schwerpunkt der Agnotologie liegt jedoch bisher auf der bewussten kollektiven Ebene. Eine dezidierte Individualagnotologie gibt es bisher nicht.

Ebenso wie Agnotologie ist Pangnotologie ein Kunstbegriff. Bei beiden geht es nicht um die Bedingungen und Voraussetzungen der Entstehung von Wissen (Epistemologie) sondern um dessen Manipulation aus mehr oder weniger existenziellen individuellen oder kollektiven Notsituationen heraus. Wärend die Agnotologie mit der interessensgeleiteten manipulativen Zerstörung von individuellen und kollektiven Gewissheiten zu tun hat, ist es bei der Pangnotologie deren Herstellung. Das Musterbeispiel für eine pangnotologische Dynamik ist der blinde Fleck in der Netzhaut im Auge. Da zumindest jede bewusste Wahrnehmung immer eine ganzheitliche ist, wird der Inhalt eines blinden Flecks quasi automatisch durch bereits bekanntes bzw. erwartbares ersetzt. Pangnotologische Verfälschungen finden jedoch nicht nur in der Wahrnehmung sondern in allen Bereichen der Kognition statt. Es ist extrem schwierig das eigene Nichtwissen zu erfassen, da es immer einer aufwendigen Selbstbeobachtung bzw. Metakognition bedarf, die eigenen blinden Flecken zu entdecken. Die einfachste Methode ist ein Perspektivwechsel, bei dem jedoch ein blinder Fleck der tiefer sitzt als der Perspektivwechsel diesen unbeschadet übersteht, so dass nur noch die Kombination aus Empathie in die Perspektive einer anderen Person zusammen mit deren Feedback übrig bleibt. Besonders destruktiv können Dynamiken sein, in denen jemand von einem anderen mit seinem Nichtwissen konfrontiert wird, und dessen Wahrnehmnung der Kritik von der Sach- auf die Beziehungsebene wechselt. Da dieses Nichtwissen bisher nicht Bestandteil des Selbstbildes ist, verunsichert die Situation und die Kritik wird persönlich genommen. Es werden abwertende Absichten halluziniert (z.B. in Form von Projektionen) und Aussagen entsprechend uminterpretiert. Der blinde Fleck wird gewissermaßen mit einem primitiven persönlichen Angriff gefüllt. Die Verunsicherung wird nicht als Ergebnis des eigenen Nichtwissens gesehen, sondern als direkt bezweckte Abwertung. Etwas ähnliches hat nach meiner Interpretation auch bei der in der Apologie des Sokrates beschriebenen Verurteilung Sokrates die entscheidende Rolle gespielt.

... einer von den Staatsmännern, auf welchen schauend es mir folgendergestalt erging, ihr Athener. Im Gespräch mit ihm schien mir dieser Mann zwar vielen andern Menschen auch am meisten aber sich selbst sehr weise vorzukommen, es zu sein aber gar nicht. Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht; wodurch ich dann ihm selbst verhaßt ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst, als dieser Mann bin ich nun freilich weiser. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas tüchtiges oder sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, daß ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen. Hierauf ging ich dann zu einem Andern von den für noch weiser als jener geltenden, und es dünkte mich eben dasselbe, und ich wurde dadurch ihm selbst sowohl als vielen Andern verhaßt.

Indem Sokrates mit seinem Philosophieren wichtige Bürger Athens mit deren Nichtwissen konfrontierte verunsicherte er sie und fiel bei ihnen in Ungnade. Das Todesurteil gegen ihn könnte insofern als pangnotologischer Mord bezeichnet werden. Während Sokrates über die Grenzen seines Wissens reflektiert, und dabei versucht gewissermaßen die Bereiche des eigenen Wissens zu kartieren, um sie so von der epistemischen Terra incognita abzugrenzen, führen davon abweichende Vorgehensweisen zwangsläufig zu pangnotologischen Dynamiken. Wenn auch sicheres unbedingtes Wissen unmöglich ist, so gibt es zumindest in der Mathematik ausgehend von Bedingungen bewiesene Aussagen, welche unter dem Vorbehalt der Fehlerhaftigkeit als sicheres bedingtes Wissen ewige Gültigkeit besitzen.

Die Vollständigkeit eines Wissensbestandes kann dialektisch durch drei Kriterien beurteilt werden. In der Breite stellt sich die Frage, ob alle Bereiche und Themen erfasst wurden, und in der Tiefe, ob dies ebenfalls der Fall ist für alle Voraussetzungen, Gründe, Gründesgründe usw. bis ganz nach unten. Als Drittes stellt sich die Frage, ob die Detailliertheit ausreicht um alle relevanten historischen, personellen, methodologischen und weltanschaulichen Sachverhalte zu beinhalten. Egal wie man zur These vom Ende der Geschichte steht, und welche Widersprüche und tiefen Klüfte alle vorher noch behoben oder überbrückt werden müssten, die aktuell immer noch bestehenden erheblichen Klüfte zwischen Theorie und Praxis lassen vermuten, dass unsere bestehenden Theorien immer noch unterkomplex und einigermaßen falsch sind. In der Konsequenz ist es immer weniger vorstellbar, dass ein Einzelner alles relevante Wissen besitzen könnte. Die Konsequenz ist ein Trilemma. Die Auswahl von zwei Kriterien führt zwangsläufig zu Abstrichen beim dritten. Ich möchte die drei möglichen extremen Kombinationen, bei denen jeweils eins der drei Kriterien vernachlässigt wird, als pangnotologische Idealtypen beschreiben.

An Stammtischen lässt sich mitunter eine Spezies besichtigen, die zu jedem Thema in allen Details auskunftsfähig ist. Deren Ausführungen mangelt es jedoch vor allem an Tiefgründigkeit. Da somit keine fundierten Begründungen und Herleitungen angegeben werden können, bestehen die Argumentationen oft aus wilden Assoziationen und groben Vereinfachungen. Damit verbunden wird auch kein großer Wert auf den Wahrheitsgehalt gelegt, sondern auf eine selbstgefällige demonstrative Zurschaustellung der eigenen Meinungen bzw. Haltungen, welche mehr oder weniger stark populistisch geprägt sein können. Diesem Idealtyp nahe kommende Personen können aber auch sehr gebildet sein, wie z.B. der Philosoph Richard David Precht, dessen detailreiche Themenvielfalt aus meiner Sicht mit einem deutlichen Mangel an Tiefe einhergeht.

Von Experten wird erwartet, dass sie über tiefgründiges und detailliertes Wissen verfügen. Sie sollen nicht nur ihr Thema tiefgründig geistig durchdrungen haben, sondern ebenfalls möglichst präzise Bescheid wissen über alle zu ihrem Thema relevanten Sachverhalte und Folgerungen. In den Wissenschaften führte die Wissensexplosion der letzten Jahrhunderte zu einer immer weiter fortschreitenden Spezialisierung. Die jeweils eigenständige Weiterentwicklung der Spezialdiziplinen hatte zu Folge, das es immer schwieriger wurde, über den eigenen Bereich hinaus zu denken und das eigene Tun sinnvoll einzuordnen.

Die dritte Möglichkeit ergibt einen Anspruch auf Breite und Tiefe mit der Folge von Detailarmut durch hohe Selektivität. Starke eklektische Tendenzen und dialektisch verschwurbelte Argumentationen sind hier nur schwer vermeidbar. Der antiexpertokratische Anspruch, die großen Zusammenhänge und Querverbindungen in den Blick zu nehmen, kann zu Brüchen und zu falschen oder überzogenen Generalisierungen führen. Durch den sich daraus ergebenden Mangel an Präzision und Stringenz sind kritikresistente Selbstimmunisierungen einfach möglich. Enzyklopädien sind solche nach bestimmten Kriterien selektierende möglichst breite und tiefe Zusammenfassungen von Wissensbeständen. Darüber hinaus sind sie in gewissem Sinne antiexpertokratisch, da bei ihnen die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit eines möglichst breiten Spektrums an Perspektiven und Standpunkten im Vordergrund steht. Im wissenschaftlichen Bereich wiederum ist eine gewisse antienzyklopädische Einstellung zu finden, da hier Stringenz und Präzision wichtiger sind. In Enzyklopädien müssen es sich Experten gefallen lassen, sich mit Kritik und Widerspruch konfrontiert zu sehen, wohingegen es innerhalb des Wissenschaftsbetriebs effektive Möglichkeiten gibt, derartigem aus dem Wege zu gehen. Auch wenn Enzyklopädien erst einmal nur Ansammlungen von Autoren und Lemmata sind, gibt es vielfältige Formen der Interaktion zwischen ihnen, ebenso wie die Wissenschaften mehr sind als nur Ansammlungen von Wissenschaftlern und deren Werken. In der Wikipedia stehen Artikel, die versuchen ein breites Spektrum an Quellen, Theorien und Standpunkten zu einem bestimmten Thema möglichst klar zusammenzufassen, einerseits oft völlig zu Recht unter dem Verdacht der Theoriefindung. Andererseits kann eine gelungene Zusammenstellung mitunter implizit die Möglichkeit einer Theoriensynthese aufzeigen und somit gleichzeitig das Theoriefindungsverbot erfüllen und verletzen.

Welterklärungen stehen immer unter dem Verdacht anmaßend zu sein. Dies gilt umso stärker je mehr sie einer der drei pangnotologischen Idealtypen entsprechen, da Anmaßung und Vereinseitigung oft Hand in Hand gehen. Enzyklopädische zwangsläufig komplexe dialektische Welterklärungen sollten immer experimentell und provisorisch sein, da sie anderfalls zur totalitären Ideologie verkommen. Experten sollten sich mit Welterklärungen ebenfalls zurückhalten, da sie andererseits Gefahr laufen, ihr Expertenwissen unzulässig zu verallgemeinern. Für Stammtischkönige wiederum ist es ratsam, bei ihren Welterklärungen auf jegliche Selbstgefälligkeit zu verzichten, und sie nicht für mehr zu halten als vage Hypothesen.

In Bezug auf die Frage nach dem Zweck des Wissen ist es noch möglich, zwischen Weltverbesserern und Wahrheitssuchern zu unterscheiden. Extreme Weltverbesserer setzen ihr Theoriewissen mehr oder weniger bedenkenlos für ihre Ziele ein, womit sie starke Ingroup-Outgroup-Dynamiken erzeugen, und somit einen Aufbau oder eine Verfestigung von Feindbildern begünstigen. Insbesondere die Verfolgung auch großer Ziele wird dadurch jedoch erheblich erleichtert. Extreme Wahrheitssucher andererseits stellen alles mehr oder weniger hemmungslos infrage, was zwar einen Abbau von Feindbildern erleichtert, dafür aber ein Verfolgen großer Ziele erheblich erschwert.

In ihrem Buch "Hybris: Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern" stellen Johannes Krause und Thomas Trappe die Frage, was bei unseren Vorfahren, die vor 70.000 Jahren Afrika verließen, anders gewesen war, als bei denen die bereits vor 180.000 Jahren im Nahen Osten lebten. Die Eem-Warmzeit vor 126.000 bis 115.000 Jahren bot klimatisch sogar noch etwas bessere Voraussetzungen für die Erfindung des Ackerbaus als das seit 12.000 Jahren bis heute andauernde Holozän. Was war und ist der Grund für die Aggressivität des "Homo Hybris", dessen ungewöhnlich schnelle globale Ausbreitung in dem Buch anhand neuester archäogenetischer Untersuchungen nachgezeichnet wird? Trotz intensiver Suche konnte bisher kein Kultur- oder Religions-Gen gefunden werden, dass uns von unseren Vorfahren vor 180.000 Jahren unterscheidet. Die Antworten, die ich in meinen Texten versuche zu geben, basieren auf der Hypothese das wir vor etwa 70.000 Jahren begannen, eine hochdimensional und vielschichtig abstrahierende Sprache zu entwickeln, die uns in die Lage versetzte, deutlich mehr beschreiben als erklären zu können. Die damit verbundene Explosion an unbequemen Wissenslücken verunsicherte und erzeugte Ängste. Die daraus resultierende Wissensdefizitspannung führte zur Entwicklung von Kultur und Religion, welche der Kompensation, Ablenkung und Selbstberuhigung dienten. Insbesondere verhinderten die Religionen einen Zustand metaphysischer Heimatlosigkeit. Der Preis hierfür waren Vertikalspannungen verbunden mit einem schlechten Gewissen, was wiederum zu neuen Ängsten führte. Das Ergebnis war eine zunehmende Entfremdung von unserer inneren und äußeren Natur. Irgendwann, nachdem wir alle Brücken in unsere Vergangenheit abgerissen hatten, konnten wir uns gar nicht mehr vorstellen, jemals etwas anderes gewesen zu sein, als von göttlichen Wesen erschaffene Kreaturen. Erst die Vertikalspannungen lösten den Kampf um Anerkennung aus, über den Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes schreibt. Das schlechte Gewissen resultierte zumindest nicht primär aus verdrängten Gewalttaten, wie Freud in Totem und Tabu mutmaßte, sondern aus den verdrängten bzw. kompensierten unbequemen Wissenslücken und der wahrnehmbaren eigenen Unzulänglichkeiten im Angesicht übermächtiger göttlicher Wesen. Mit der Erfindung des Geldes und den damit verbundenen Revolutionen von menschlicher Psychologie, Gesellschaft und Kultur kam eine weitere Explosion an unbequemen Wissenslücken hinzu, und wir entfremdeten uns auch noch voneinander. Ebenfalls erst durch die Vertikalspannungen und die mit ihnen zusammenhängenden Entwicklungen kam das Böse in die Welt. Dieses versuche ich als eine Spirale aus Persönlichkeitsdefizitspannungen, Psychopathie, Mobbing und Menschlichkeitsdefizitspannungen zu beschreiben. Haben unbewusste pangnotologische Dynamiken gewissermaßen noch etwas unschuldiges, ändert sich dieses, wenn Menschen sich bewusst entscheiden, die vielfältigen Spannungen mit Hilfe pangnotologischer Techniken und Strategien zumindest vorübergehend abzubauen, z.B. in dem sie diese externalisieren.

Die für mich überraschendste Entdeckung beim Ausarbeiten dieser Texte war, dass die drei pangnotologischen Idealtypen sowohl zu meiner Persönlichkeitstypologie als auch zu meiner Geschichtsphilosophie passen, sodass es möglich ist, pangnotologische Zeitalter zu definieren. Das von vor 70 000 Jahren bis zur Erfindung des Geldes möchte ich als das histrionische Stammtischzeitalter bezeichnen. Daran anschließend folgte das narzisstische Expertenzeitalter, in dem der Homo Hybris zum Homo Hybris Avaritia mutierte. Irgendwie versuche ich mir einzureden, dass am 15. Januar 2001 ein neues Zeitalter begonnen hat, welches man als antiautoritäres und empathisches Partizipationszeitalter bezeichnen könnte, da es alle drei pangnotologischen Idealtypen gleichberechtigt integriert. Leider sind dafür bisher nur vage Ansätze aber keine belastbaren Indizien erkennbar, und die aktuelle Popularität autoritärer Heilsversprechen deutet mal wieder auf den starken Wunsch nach einer zumindest teilweisen Rückkehr ins histrionische Stammtischzeitalter hin. Vielleicht wandelt sich ja gerade der Homo Hybris zum Homo Sapiens. Alternativ könnten wir aber auch am Beginn einer Zeit neuer ideologischer Empathieverweigerungen stehen, abhängig davon wie es gelingt, die extremen weltanschaulich schismogenetischen Tendenzen der beiden ersten Zeitalter zu überwinden. Momentan sieht es jedoch leider so aus, als ob eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft erst nach einem globalen Systemkollaps erreichbar zu sein scheint.

Literatur

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807
Johannes Krause, Thomas Trappe, Hybris: Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern, 2021
Sigmund Freud, Totem und Tabu, 1913
 

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